Ein Jahr nach Fukushima

Toru Kumagai

Aktionskreis fur Wirtschaft, Politik und Wissenschaft

Im Bayerischen Landtag, 12. Maerz 2012

1.      Einleitung

Mein sehr geehrter Herr Vorsitzender Dr. Goppel,

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich moechte mich herzlich bedanken, dass Sie mir eine Gelegenheit gegeben haben, bei Ihrer Veranstaltung zu sprechen. Es ist eine grosse Ehre fur mich.

2.      Ist der Reaktorunfall zu Ende ?

Am 16. Dezember letzten Jahres hat der japanische Ministerpraesident Noda angekuendigt, dass alle drei havarierten Reaktoren vom Kernkraftwerk Fukushima 1 stabilisiert wurden. 

?Stabilg bedeutet, dass die Temperatur der Druckbehaelter nachhaltig unter 100 Grad ist.

Aber Ministerpraesident Noda hat bei der Pressekonferenz einen Satz gesagt, den er meiner Meinung nach haette noch nicht sagen sollen. Er sagte, dass der Reaktorunfall durch die Stabilisierung der Reaktoren zum Ende gekommen sei. Diese Aussage wurde von der Bevoelkerung mit Verwunderung aufgenommen.

Vor allem fast 110.000 Buerger von der Praefektur Fukushima, die wegen des Unfalls ihren Wohnort verlassen mussten, klang das Wort des Ministerpraesidenten wie ein Hohn. Auch die Buergermeister der Gemeinden, die die gesamte Bevoelkerung evakuieren mussten, empfanden die Einschaetzung des Ministerpraesidenten als verfrueht, dass die Katastrophe vorbei sei.

Wir kennen noch nicht das Ausmas dieses schweren Unfalls. Was im Reaktorgebaeude wirklich passiert ist, hat noch niemand gesehen. Selbst TEPCO und die Regierung koennen den Zustand in den Reaktoren anhand der Messdaten durch Sensoren nur vermuten, weil die Strahlendosis noch zu hoch ist.

3.      Kampf gegen die Kontamination 

Fuer uns Japaner hat der Kampf gegen die Nachwirkung der ersten Atomkatastrophe in einem westlichen Hochindustrieland erst begonnen. Das groesste Problem ist die Kontamination.

Am meisten betroffen sind ca. 78.000 Personen, die im Umkreis von 20 km vom Kraftwerk gewohnt haben. Dieses Gebiet ist fast menschenleer. Im Moment gibt es keine Aussicht, wann sie nach Hause zurueckkehren koennen. Wenn man in diesem Gebiet ein Jahr lang wohnt, uebersteigt die kumulierte Strahlendosis 20 Milisievert. Zum Vergleich: in Deutschland darf die Jahresstrahlendosis der beruflich exponierten Personen 20 Milisievert nicht uebersteigen.  Fuer die Bevoelkerung gilt der Grenzwert von einem Milisievert.

Im Dezember 2011 hat die japanische Regierung mit der Dekontamination der kontaminierten Gebiete angefangen.

Eine gigantische Aufgabe kommt auf uns zu. Dem japanischen Umweltministerium zufolge muesste die Erdflaeche von 1.800 Quadratkilometer oder die Erde von ca. 28 Million Kubikmetern abgetragen werden. Die Regierung hat noch keinen Plan, wohin mit dieser Erde.

Die Praefekturverwaltung Fukushima wird in den naechsten 30 Jahren den Gesundheitszustand der 2 Millionen Einwohner regelmaessig untersuchen. Bisher wurde nur geringe Menge vom radioaktiven Jod und Caesium im Kaerper von Einwohnern festgestellt, die nach Behaerdenangaben keine Auswirkungen auf die Gesundheit haben soll. Aber es ist noch zu frueh fur die Entwarnung. Die Untersuchungen in der Ukraine und im Weissrussland zeigen, dass die Anzahl der Erkrankten am Schilddruesenkrebs erst 5 Jahre nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl sprunghaft gestiegen ist.

4.      Sorge der Bevoelkerung waechst

In der Bevoelkerung waechst die Angst um die Kontamination der Lebensmittel. Die japanische Regierung hat unterlassen, nach dem Atomunfall die Lebensmittel nach radioaktiver Kontamination gruendlich zu untersuchen und Verkaufsverbot zu verhaengen.

Zum Beispiel wurde Rindfleisch, das mit Caesium kontaminiert war, in fast 300 Schulen als Schulessen angeboten und verzehrt. Es ist darauf zurueckzufuehren, dass das Landwirtschaftsministerium nicht verboten hatte, radioaktiv kontaminiertes Heu als Futtermittel zu verkaufen. Die Behoerde hat teilweise in Reis, Gemuesen, Tee, Pilz, Fisch und Milchpulver Radionuklide ueber Grenzwert festgestellt.

Eine grosse Sorge bereitet die Kontamination des Meers. Zwischen Maerz und Mai 2011 ist 780 Tonnen hochradioaktiv kontaminiertes Abwasser in den Pazifik geflossen. Wir haben noch zu wenig Information zum Ausmass der Kontamination der Fische und Meeresfruechte.

Die Informationspolitik der japanischen Regierung war eine Katastrophe. Ein typisches Beispiel ist das Vorenthalten der Prognose von Verbreitung der Radionuklide. Seit 80er Jahren hat die japanische Regierung ein Prognosesystem, das bei einem Atomunfall die Richtung der Verbreitung der Radionuklide einschaetzt. Die Regierung hatte zwar kurz nach dem Unfall vorlaeufig geschaetzt, in welche Richtung sich die Radionuklide aus Fukushima I verbreiten wird. Aber diese Information wurde nicht veroeffentlicht und im Evakuierungsbefehl nie beruecksichtigt.

Deswegen sind einige Muetter mit Kleinkindern in die Gebiete gefluechtet, die staerker als in ihrem Wohnort kontaminiert waren. Die Regierung hat sich zwar entschuldigt, aber erklaert, dass man eine Panik durch Veroeffentlichung vermeiden wollte.

Vor kurzem wurde in Japan ein schockierendes Dokument aufgedeckt. Der Vorsitzende der Atomsicherheitskommision hatte kurz nach dem Atomunfall dem Ministerpraesidenten seine Einschaetzung von einem schlimmsten Szenario vorgelegt. Diesem Dokument zufolge haette ein schlimmster Unfallablauf eine Zwangsevakuierung im Umkreis von 175 Kilometer erforderlich gemacht, und die Regierung haette eine freiwillige Evakuierung im Umkreis von 250 Kilometer empfehlen muessen.

Das wuerde bedeuten, dass ein Gebiet inklusiv die oestliche Haelfte von Tokio haette geraeumt werden muessen. Die Regierung hatte diese Information geheimgehalten, um eine Beunruhigung der Einwohner zu vermeiden. Ausserdem ist eine Evakuierung von zweistelligen Millionen Menschen praktisch nicht moeglich.

Die Tatsache, dass die Regierung keinen Plan fur die Evakuierung der Hauptstadt bei einer Atomkatastrophe hatte, beunruhigt mich am meisten.

Wir Japaner waren zu optimistisch und haben nicht kritisch hinterfragt, ob die Katastrophenvorsorge ausreichend war. Die Regulierungsbehoerde und TEPCO hatten mit einem Tsunami in Hohe von 13 Meter nicht gerechnet. Es war auch ein fataler Fehler, dass die Regulierungsbehoerde dem Wirtschaftsministerium unterstellt war, das die Atomenergie foerdert.

5.      Unklare Zukunft der Energieversorgung

Ein Jahr nach Fukushima hat die japanische Regierung immer noch kein klares Energiekonzept fuer die Zukunft. Man kann die bisherige Energiepolitik hoechstens als einen Zick-Zack-Kurs bezeichnen.

Der ehemalige Ministerpraesident Kan hat einen langfristigen Atomausstieg und den Ausbau der erneuerbaren Energie angekuendigt. Aber er hatte keinen Rueckhalt in der Regierung, weil er dieses Konzept mit den zustaendigen Ministern und der Privatwirtschaft nicht abgestimmt hatte.

Japan kann im Gegensatz zu Deutschland keinen Strom aus dem Ausland importieren. Aus diesem Grunde ist die Sorge um Energiemangel viel groesser als in Deutschland. Laut Umfrage von Mainichi Zeitung im August letzten Jahres haben nur 11% der Befragten gesagt, dass Atomkraftwerke sofort ausgeschaltet werden sollen. Aber 74% der Befragten befuerworteten einen stufenweisen Rueckgang des Anteils der Atomenergie.

Die jetzige Regierung ist entschlossen, die Atomenergie weiter zu benutzen. Ein neues Gesetz sieht vor, die maximale Laufzeit auf 40 Jahre zu begrenzen, aber eine Verlaengerung um 20 Jahre ist moeglich.  

Wir haben aber eine seltsame Situation in Japan. Im Moment laufen nur 2 von 54 Reaktoren. Der Rest wurde wegen Revision  und Sicherheitspruefung stillgelegt. Die Bevoelkerung in der Naehe von Atomkraftwerken ist verunsichert. Bisher haben keine Gouverneure des Standorts die Wiederinbetriebnahme genehmigt, weil er sonst die naechste Wahl hoechst wahrscheinlich verlieren wird. Im Mai wird Japan auf diese Weise frueher atomenergiefrei als Deutschland. Es ist nicht abzusehen, wann und ob die Regierung diese Blockadesituation aufbrechen kann.

In 2009 haben Atomkraftwerke in Japan 29% vom Strom geliefert. Die Regierung will zwar die regenerative Energie ausbauen, aber der Anteil der erneuerbaren Energie ohne Wasserkraft betraegt nur 1% von Energieerzeugung. (in Deutschland: 17% ohne Wasserkraft). 

Die Stromversorgung in Japan ist prekaer geworden. TEPCO, der einzige Versorger in der Hauptstadt und Ballungsgebiet ist ohne Hilfe von Regierung und Kreditinstituten nicht ueberlebensfaehig. Die Industrie ist ueber die Stabilitaet der Energieversorgung aeusserst besorgt. Die Stromwirtschaft spricht von der groessten existenziellen Krise nach dem Zweiten Weltkrieg.

Fukushima war ein Weckruf fur die Umweltbewegung in Japan. Bisher hat die Umweltbewegung in Japan keine Rolle gespielt. Liberale Lokalpolitiker planen, in diesem Juli eine gruene Partei zu gruenden. Diese Partei strebt bei der Unterhauswahl im naechsten Jahr den Einstieg ins Parlament an.

Meiner Meinung nach hat die Debatte uber die neue Energiepolitik noch nicht angefangen. Das Territorium von Japan hat nur 0,25% der Erdflaeche, aber in diesem kleinen Land passierten 23% der Groserdbeben mit Staerke uber 6 auf der Richterskala der ganzen Welt zwischen 1994 und 2003. Ist es nach Fukushima politisch vertretbar, in solch einem Land mehr als 50 Atomreaktoren zu benutzen? Wir Japaner muessen uns zunaechst mit dieser Frage auseinander setzen.

Vielen Dank fuer Ihre Aufmerksamkeit und ich freue mich auf rege Diskussion mit Ihnen.